Kehrwoche. Eva Christina Zeller: „Unterm Teppich” (2022)

Im schwäbischen Sprachgebrauch hat das Wort Teppich zwei recht unterschiedliche Bedeutungen. In der landläufigen Verwendung des Wortes ist damit zwar der Gegenstand gemeint, den man auf den Boden legt. Und was man unter den Teppich kehrt und verdrängt, davon handelt denn auch der Roman „Unterm Teppich“, das erste Romanwerk der für ihre Lyrik bekannten Autorin Eva Christina Zeller, die aus dem schwäbischen Tübingen stammt.

Doch nicht immer, wenn Schwäbinnen und Schwaben von einem Teppich reden, kommt man ihnen so leicht auf die Schliche. Denn sie verstehen darunter auch eine Decke – eine wärmende Decke, die man sich über den Körper zieht. Oder ganz einfach die Bettdecke. Klar, dass dieser Bedeutungsunterschied bei Neigschmeckten (Zugezogenen) wie mir, der ich rund vier Jahre in der Nähe von Tübingen leben durfte, für reichlich Verwirrung sorgen kann.

In Zellers Roman sorgt der schwäbische Doppelsinn des Wortes auf jeden Fall für eine wichtige Bedeutungskomponente. Denn diese regionale Nebenbedeutung des Wortes schwingt auf jeder Seite des Debütromans mit. Ist es doch ihr Liebesleben unter der Decke, das die Ich-Erzählerin auf den etwa 160 Seiten dieses schmalen Bandes aus ihrer verdrängten Sphäre unter dem Teppich hervorkehrt und in 61 Kapiteln zur Sprache kommen lässt.

Aufstieg aus dem Dunkeln ins Licht

Es handelt sich um 61 Kapitel, die als Bilder aus ihrer Vergangenheit auftauchen. Ganz offen, doch voller Scham – und das ist ein wichtiger Punkt – bekennt sich die Erzählerin zu diesen Episoden aus ihrem Leben. Die Bilder sind meist rätselhaft wie Märchen. („Es soll nicht vergeblich sein, das Wünschen“ (S. 83), heißt es einmal. Und bekanntermaßen hatte das Wünschen in Märchen noch geholfen.) Doch gelegentlich sind sie auch mit der Klarheit einer aufsteigenden Erkenntnis ausgestattet.

An einer solch luziden Stelle in Zellers Roman der Scham wird der Werkprozess dieses Buches beschrieben: „Ich habe meine Träume befragt, ob ich die Geschichten, die da unterm Teppich hervorgekehrt wurden, diese Hervorkehrungen, aufschreiben soll, denn immerhin seien sie doch nicht zufälligerweise unter den Teppich gekehrt worden. Sie scheuen das Licht und machen der Träumerin ein schlechtes Gewissen. Meine Träume antworteten verschlüsselt in Episoden, wie es anders nicht zu erwarten gewesen war“ (S. 161).

Diese kurzen Episoden arbeiten mit Assoziationstechniken und folgen der nicht immer verständlichen Traumlogik. Einzelne Motive werden zusammengeführt, ineinandergeschoben. „[S]ind nicht alle Ordnungen für die Erinnerung unsinnig und leer?“, fragt die Erzählstimme denn auch (S. 54) und beschreibt damit das Bauprinzip von „Unterm Teppich“.

Bei so viel Bilderlust fällt dann scheinbar auch schon mal die Schranke zwischen Wort und Gegenstand: Anstatt korrekterweise einen sprachlichen Vergleich mit dem Wörtchen „wie“ zu konstruieren, lässt es der Text einmal kurzerhand weg und springt direkt in sein sprachliches Bild. So befindet sich ein Kloster „auf schwankendem Terrain, auf dem Meer bei hoher Windstärke“ (S. 73) – nicht etwa „wie ein Schiff auf dem Meer“.

Zeller Roman
Haut hin. Ein starker Roman – verdichtet in seiner Sprache und seinen Bildern

Im Bilderroman „Unterm Teppich“ geht es um das Frauenbild und darum, was Männer Frauen antun. Es geht um frühe und spätere Erfahrungen mit Männern, mit übergriffigen Typen, um Misshandlungen durch den Vater, auch das. Es geht um weibliche Sexualität und inwiefern Dinge, die damit zusammenhängen, unter den Teppich gekehrt werden oder sich ein Freiheitsbegriff an ihr entzünden kann (eine differenzierte Einschätzung Simone de Beauvoirs inklusive). Beziehungen führen tendenziell zum Scheitern: Wird eine Detektivin damit beauftragt, die Treue des eigenen Ehemannes zu prüfen, verlieben sie Prüferin und Geprüfter prompt ineinander und werden ein Paar („Das Seminar“, Bild 32).

Waren es Erfahrungen wie diese, die aufseiten der Erzählerin zu einem trotzigen Lebensmotto führten? „Wer will schon siegen? Verlieren wollte sie“ (S. 90), heißt es da. Es geht in diesem Buch vor allem auch ums Reisen, um ein Hinauskommen in die Welt. Denn die „Ferne beruhigte sie, von der Welt konnte man nicht herunterfallen, sie war rund“ (S. 37). Das Gegenmodell hierzu – oder nur eine andere Form der Erfahrung von Ruhe? – ist die Arbeit der Ich-Erzählerin in einem Gefängnis, um auszuprobieren, „wie sich das anfühlen könnte, wenn man seinen Mann zu Recht umgebracht hat“ (S. 73).

Die Kapitel stehen meist zusammenhanglos nebeneinander. Auf einen vordergründigen Erzählzusammenhang, der die Episoden fugenlos miteinander verbinden würde, wartet man in vielen Fällen vergebens. Es ist ein Bau mit Brüchen. Nur: Gerade dadurch atmen die einzelnen Bilder die Aura des Ungesagten. Es ist die Kraft von Bildern, die aus dem Unbewussten aufsteigen. Spürbar wird, was unter den Teppich gekehrt und nun wieder hervorgekehrt wurde.

Im Kontrast dazu steht ein häufig eingefügtes, exaktes Datum, an dem sich die jeweilige Episode zugetragen hat. Das stiftet die durchgehende Chronologie eines Erzählens, das im Unbewussten kramen und aufschlussreiche Szenen aus der Vergangenheit hervorholen möchte.

Doch unter all diesen Traumgeschichten gibt es zwei Abschnitte, die sich in ihrer Machart deutlich von den anderen Bildern unterscheiden. Es sind die Kapitel 54 „Abwege“ und 55 „Planken“, die beide in Tübingen spielen. Gerade das letzte ist mit über 20 Seiten nicht nur viel länger als alle anderen, die sich zum Teil auf nur eine Seite verdichten. Es ist auch ein Kapitel, das mit einem bekenntnishaften Monolog der Ich-Erzählerin einen Prosatext im engeren Sinne enthält.

Das Bewundernswerte dieser Passage besteht in ihrem völlig entwaffnenden Erzählton. An einer Stelle, an der von Ungewissheiten die Rede ist und dass man von Mal zu Mal weiterschauen müsse, von Planke zu Planke springe, heißt es so prosaisch wie lapidar: „Wir tun doch nichts anderes im Leben“ (S. 130). So relaxt geben sich die übrigen Bilder selten. In diesem Monolog, der eine aufgewühlte Ich-Erzählerin zeigt, ruhen paradoxerweise alle Kämpfe. Gelegentlich streifen die Sätze das Kalenderspruchartige. Doch sind sie immer noch schön, immer noch ästhetisch. Selbst die genretypischen Wiederholungen eines Monologes stören nicht.

Sind die kurzen lyrischen Kapitel noch sehr verdichtet in ihrem bildgewaltigen Inhalt und vor allem – was nicht genug gelobt werden kann – in ihrer wortspielerischen Sprache, so hat Zeller gegen Ende des Buches eine Beichte der Ich-Erzählerin platziert, die zum Kernstück ihres Romans über die Scham avanciert und fraglos das beste Kapitel bildet.

Wer schon einmal in dieser Stadt zu Besuch war, weiß: Tübingen ist eine Märchenstadt. Tübingen ist eine Zauberstadt. Und in diesen Kapiteln kommt dann auch das welthaltige Reisemotiv der vorangehenden Bilder komplett zum Erliegen. „Man fährt hier nicht durch, man kommt hier an“ (S. 122). So strahlt das Kapitel 54, in dem Tübingen bei einem Spaziergang beschrieben wird und das den Monolog aus Kapitel 55 vorbereitet , unglaublich viel Ruhe aus im Vergleich zu den vielen Bewegtbildern des Buches, bei denen der Autofokus noch dabei ist, die Schärfe einzustellen, die Intention der Geschichten im Ungefähren bleibt.

Doch worum geht es? In Kapitel 55 wird ein wichtiger Akzent der Scham der Ich-Erzählerin offengelegt. „Planken“ erzählt davon, wie ihr Partner Ulrich im Krankenhaus starb. Und es erzählt davon, dass die Erzählerin in der Stunde seines Todes nicht im Krankenhaus am Bett ihres Freundes saß. Ausgerechnet in diesem Moment hatte sie sich mit ihrer Affäre Rob getroffen. „Ich weiß nicht, ob ich ein schlechtes Gewissen hatte. Ich nehme es fast an“ (S. 140). Aber: Es war nicht einfachhin ihre Schuld. Es waren auch die Umstände, die ungünstig waren, so dass sie im Moment des Abschiedes nicht bei ihm war.

Sie war nicht bei ihm, als er unter der Decke seines Krankenhausbettes verstarb: Auch hier entschlüsselt sich die zweite Bedeutung von Teppich im Sinne von Decke. Die Decke steht hier offensichtlich nicht nur für Eros allein, sondern auch für Thanatos. So gewinnt das nur indirekt (oder: im Verborgenen) genannte Motiv der Decke die Bedeutung von Leben und Tod.

Im Monolog spielt die Erzählstimme verschiedene Szenarien durch. Woran es lag und warum es kommen musste, wie es kam. Bei der Lektüre liegt es einem auf der Zunge zu psychologisieren: Lag es vielleicht auch an den Erfahrungen im Laufe ihres Lebens, die sich in jenen Bildern des Romans Bahn brechen? „Die Kehrseite könnte das Wichtigste sein?“ (S. 146), fragt sie selbst angesichts ihres Erschreckens darüber, in der Sterbenacht bei einem anderen Mann gewesen zu sein. Die Kehrseite oder anders gesagt: das Ungesagte der aufsteigenden Bilder, dieser Hervorkehrungen.

Die Beichte als Form des literarischen Erzählens in der deutschen Literatur – das wäre vermutlich die ein oder andere eine Doktorarbeit wert. Bereits in einem Bild zu Anfang des Buches sagt die Erzählerin: „Das Tagebuch ist eine offene Form, es gibt keinen Schutz, nur den der Offenheit. Bekenne, und du wirst gerettet werden“ (S. 35). Die Lektüre des eigenen Tagebuchs, dieses Mediums des Verborgenen, durch Psychologen, verdrehte sich bereits im Kapitel über ihre Jugendzeit ins Gegenteil: Die Verfasserin des Tagebuchs wird von den sie betreuenden Therapeuten fortan in Ruhe gelassen. Verborgenes führt in die Freiheit.

Die Erzählerin bei Zeller war am Zug. Sie hatte das, was man im Schwabenland noch heute kennt: Kehrwoche. Sie nahm den Besen in die Hand und fegte vor ihrer Tür. Sie hat weggekehrt, sie hat hervorgekehrt. Was bei dieser Tübinger Dialektik so alles zum Vorschein kommt, dafür schämt sie sich. Und was sich unter ihrer Scham verstehen lässt, das läuft zusammen in der Doppelbedeutung von Teppich im Allgemeinen und Decke im Besonderen, wobei Decke wiederum auf Eros und Thanatos anspielt. Nur welche Bedeutung das alles für die Erzählerin in ihrer eigenen Beichte gewinnt – hier bleibt ein Rest an Unschärfe.

Für „Unterm Teppich“ liegt jedenfalls auf der Hand: Es ist ein außergewöhnlich kunstsinniges Buch geworden.

„Für mich stellt sich die Frage, wie vollständig eine Lebensrückschau sein kann.“ Ein Interview mit Sabine Schönfellner über ihren Roman „Draußen ist weit“ (2021)

Ein außergewöhnliches Buch: Dicht an starken Bildern, facettenreich in den Figuren. Mit „Draußen ist weit“ veröffentlichte Sabine Schönfellner vor wenigen Wochen ihr Romandebüt. Ich befragte sie zu einigen Kernthemen des Buches.

 

Andreas Urban: In Ihrem Roman „Draußen ist weit“ gibt es drei Episoden, in deren Zentrum Senioren stehen. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Wahl?

Sabine Schönfellner: Ich sehe weder das Erzählen über alte Menschen noch das Auftreten von mehreren zentralen Personen als ungewöhnlich. Im Schreiben hat sich herausgestellt, dass die Ich-Erzählerin mehr als eine Person begleiten wird, nach und nach haben sich deren Geschichten ergeben. Dabei geht es aber nicht darum, deren Geschichten zu Ende zu erzählen, sondern es zeigt sich für die Ich-Erzählerin (und hoffentlich auch für Leser*innen), dass ein abschließendes Erklären, eine Rückschau nicht so einfach und oft nicht zu erreichen ist.

Andreas Urban: Die Ich-Erzählerin begleitet den Heimbewohner Herrn Dober und spricht einmal von ihrem „eigenen Wald“. Doch es wird nicht aufgeklärt, was es damit auf sich hat. Generell verrät die Erzählerin wenig über sich selbst und ließe sich höchstens indirekt über ihre Reaktionen charakterisieren. Warum haben Sie die Figur eher nebulös angelegt? Warum tritt die Erzählerin nicht viel stärker in den Vordergrund?

Sabine Schönfellner: Aus meiner Sicht ist die Ich-Erzählerin zurückhaltend und etwas einsam, sie hat daher die Möglichkeit, sich eingehend mit den drei alten Menschen zu beschäftigen. Sie will sich nicht in den Vordergrund drängen, sondern helfen, was ihr nicht immer gelingt. Es erzählen eben nicht zwei alte Frauen und ein alter Mann direkt über ihr Leben, sondern wir bekommen es von jemandem vermittelt, der seine eigenen Fragen stellt oder manches eben nicht hinterfragt. So, wie wir in der Regel auch selten direkt von einem alten Menschen über dessen Leben erfahren, sondern eher über Dritte (oder über die Vermittlung durch Texte oder Filme). Damit stellt sich für mich auch die Frage, wie kohärent oder vollständig eine solche Lebensrückschau sein kann.

Andreas Urban: Ihre Erzählung „Herbstwespen“ hat den Klimawandel zum Hintergrund. Welche Rolle spielt der Umweltschutz generell für Ihr Schreiben?

Sabine Schönfellner: Für mich ging es nicht um ein abstraktes Bild des Klimawandels oder der Frage nach Umweltschutz, sondern ausgehend von einem konkreten Ort um die Frage, wie drei unterschiedliche Figuren extreme Wetterereignisse und Veränderungen wahrnehmen und erleben – und welche Eindrücke im Lesen entstehen, wenn man beginnt, die drei Figuren und ihre Wege zu vergleichen, Parallelen und Unterschiede wahrzunehmen. Welche Antworten Literatur da bieten kann – da muss man utopische, konzeptorientierte Texte heranziehen, die sich dezidiert auf die Fahnen schreiben, wie etwas werden kann oder sollte; oder sich auf die Auslegungen und Auseinandersetzungen von Literaturwissenschaftler*innen verlassen, welche Schlüsse zu ziehen sind.

Andreas Urban: Im Roman werden immer wieder Grenzen gezogen und Grenzen überschritten. Man bekommt ein Gefühl für das, was mit „weit“ gemeint ist. Also das, was von einem selbst weit weg ist. Im Roman geht es ja auch über Grenzen hinweg von Österreich bis nach Norwegen. Andererseits tauchen im Roman typisch österreichische Begriffe auf. Sprachlich eine regionale Begrenzung, die im Gegensatz zur räumlichen Weite steht. Sehen Sie in diesem „speak local“ einen Aufruf, das Regionale stärker zu schätzen? Wie verhalten sich Weite und Nähe für Sie zueinander?

Sabine Schönfellner: Eine allgemeine Antwort fällt mir hier schwer. Ich verstehe das österreichische Deutsch nicht als Regionalsprache, sondern als eine hochsprachliche Varietät des Deutschen. Da die Figuren Österreicher*innen sind, verwenden sie nicht nur Ausdrücke, sondern auch Hilfsverben und Satzkonstruktionen, die nur hier vorkommen – aber das passiert bei mir nicht als bewusstes Einsetzen, sondern entsteht aus der Sprache der Figuren.

Andreas Urban: Sie geben Kurse für literarisches Schreiben, nun ist Ihr erster Roman erschienen. Würden Sie sich als gute Schülerin bezeichnen?

Sabine Schönfellner: Ich arbeite seit mehr als zehn Jahren mit schreibenden Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, im Zentrum steht dabei aber nicht das Beibringen oder Vermitteln von Konzepten, sondern die Arbeit am Text und die Frage, wie man einen konkreten Text so begleiten, kritisieren, überarbeiten, hinterfragen, stützen uvm. kann, damit er seine Form und seine Sprache findet. Ich kann keine Lehrer benennen, deren Schülerin ich bin, und weiß auch nicht, wie man die Entwicklung einer Autorin benoten würde. Ich kann dazu nur sagen, dass die Veröffentlichung eines Romans – wann sie passiert und ob überhaupt – ja nicht nur von einem selbst, sondern auch von den Bedingungen des Literaturbetriebs abhängt.

Hier gehts zur Rezension des Buches „Draußen ist weit“: https://literaturkritik.de/schoenfellner-draussen-ist-weit,28230.html

Mehr zur Autorin Sabine Schönfellner auf https://www.schoenfellner.net/.

„Ich schreibe immer so, wie es sich in meinem Kopf anhört.“ Ein Interview mit Angelina Roth über ihren Roman „Die Closerie“ (2021)

Mit leichter Hand geschrieben: Angelina Roth hat mit „Die Closerie“ einen Roman über das Kreativsein im 21. Jahrhundert verfasst. Wie sieht die Autorin ihr eigenes Schreiben? Ich führte ein Gespräch mit ihr über die Themen des Buches.

 

Andreas Urban: Wie kam es mit „Die Closerie“ zu diesem Rückgriff auf ein Künstlercafé aus dem 20. Jahrhundert? Hattest du das Thema schon länger auf dem Zettel, hat es sich durch eine konkrete Entdeckung ergeben?

Angelina Roth: Die Idee kam mir ganz spontan an einem Morgen im Dezember 2019. Gleich nach dem Aufwachen habe ich mich hingesetzt und die ersten zwei oder drei Kapitel geschrieben. Woher die Idee kam, kann ich nicht sagen. Sie war plötzlich einfach da.

 

Als Autorin schreibst du aus der Sicht eines Mannes. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Das passiert mir immer wieder. Warum? Ich weiß es nicht. Es hat sich so ergeben, auch bei meinem Debütroman „Antoine exlex“. Ehrlich gesagt ist mir die Hülle der Protagonisten auch nicht sehr wichtig. Ich glaube, ich könnte ohne größere Schwierigkeiten aus der Sicht einer Heizung oder eines Affen schreiben.

Im Buch werden Hemingway, Fitzgerald und Stein mehrfach genannt. Auch Coelho hat seine Auftritte. Wie ist dein Verhältnis zu den im Buch genannten Autoren? Die Charaktere – vor allem die Krisen und die Vergangenheit Damians – werden ja nur angedeutet. Das erinnert an die Eisbergtheorie und nach amerikanischen Vorbildern. Spielte bei deiner Schreibweise Hemingway Pate?

Es sind Autoren, deren Werke ich mag, schillernde Figuren mit einem gewissen Unterhaltungswert. Hemingways Schreibweise sagt mir zu, weil auch ich mich gerne auf das Wesentliche konzentriere. Logik und Klarheit liegen mir sehr und ich kombiniere das gerne mit dem Schönen, Humorvollen und Unbeschreibbaren. Aber trotzdem gibt es bei mir nur eine Regel: Ich schreibe immer so, wie es sich in meinem Kopf anhört.

Du hast das Thema Videocalls verarbeitet, als hättest du die coronabedingte Tendenz zum Homeoffice vorausgeahnt. Wie gehst du als Autorin mit dem Lockdown um?

Da ich als Schriftstellerin viel Zeit zuhause verbringe, hat sich für mich kaum etwas geändert. Ich habe zwischendurch immer wieder vergessen, was los ist. Da mein Mann Arzt ist, konnte ich mich der Realität aber nicht ganz entziehen. Wir haben viel über Corona gesprochen, gelegentlich auch gelacht und in letzter Zeit häufiger geflucht. Obwohl die Ruhe meinem Schreiben guttut, freue ich mich sehr, wenn Normalität und vor allem auch Lesungen wieder möglich sind.

 

In der Mitte des Romans halten sich die Figuren im Kleinbasel und im Großbasel auf, dem Zentrum Basels auf beiden Seiten des Rheins. Und sie empfinden Bruderholz als Urlaub. Wie bist du an das Thema Basel herangegangen? Es ist deine Heimatstadt. Wie war es für dich beim Schreiben, sich dieser Stadt anzunähern?

Ich habe eine gewisse Distanz zur Stadt, da ich trotz meiner Basler Wurzeln in Deutschland aufgewachsen bin. Es ist dennoch eine Herausforderung, eine Umgebung, die einem selbst so selbstverständlich erscheint, zu beschreiben. Ich frage mich: Können sich die Leser*innen vorstellen, wie es am Bahnhof aussieht, oder setze ich beim Schreiben zu viel Wissen voraus?

Im Roman werden die Probleme geschildert, literarische Texte in einem Verlag zu veröffentlichen. Die Buchszene kommt nicht besonders gut weg. Warum ziehst du es vor, dein Buch als BoD zu veröffentlichen?

Für mich ist vor allem die Freiheit wichtig, gerade für meine ersten Bücher. Ich will möglichst unbeeinflusst schreiben und mich frei entwickeln. Ich höre immer wieder die Klagen von Verlagsautoren und denke mir jedes Mal, dass ich mir das selbst lieber aufhebe für irgendwann später.

 

Du schreibst Bücher, die man vor dem Einschlafen lesen kann, sagst du. Wie schreibt man Bücher, die einen in den Schlaf begleiten?

Indem man mit seinen Worten die Gedanken nicht terrorisiert und auf Gewalt, Hässlichkeit und Brutalität verzichtet.

… und was mir noch auf den Nägeln brennt: Im Roman fahren die 3 Kreativen mit der Tram durch Basel. Johannes erzählt von seiner Ex, mit der er Tür an Tür lebte. Auf einmal beteiligen sich wildfremde Personen am Gespräch der drei. Sind die Basler tatsächlich so offen?

Ich erlebe es so, dass die Menschen wesentlich kommunikativer sind, wenn Sommer ist oder irgendein internationales Event stattfindet wie die Art Basel. Dann redet man öfter mit Fremden, gerade weil man auch öfter angesprochen und z. B. nach dem Weg gefragt wird.

Mehr über die Schriftstellerin Angelina Roth auf https://angelinaroth.ch/.

Böblingen und Bergamo, Basel und Berlin. Thommie Bayer: „Eine Kurze Geschichte vom Glück“ (2007)

Robert Allmann aus Freiburg, ehemaliger Musiker, freischaffender Texter und zwischenzeitlich Mitbegründer einer Künstleragentur, gewinnt im Lotto. Er ist einer von zwei Glückspilzen und erhält 6 Millionen Euro. Was soll jetzt noch folgen – außer dem vollendeten Glück natürlich? Nun ja, neben einer schicken Limousine gibt es ein paar Schicksalsschläge und jede Menge Selbstzweifel.

Bei der Benachrichtigung durch die Lotteriebehörde über den Gewinn, erhält Allmann den Rat, niemandem etwas davon erzählen. Daran will er sich auch halten. Bei seiner Frau möchte er aber eine Ausnahme machen. Oder nicht? Nein, doch, das will er. Ihr möchte er die frohe Kunde auf jeden Fall überbringen.

Und in diesem Hin und Her liegt in dieser Geschichte über das Glück auch schon der Hund begraben. Doch der Reihe nach.

Es ist ja schon mal nett anzumerken, dass bei bei dem Schweigepakt und dem Nichtzählen dennoch der Literatur das ganze Glück anvertraut wird – eine gute Nachricht. Sprache und Erzählhaltung des Romans nehmen einen auch sofort ein. Es gibt viele schöne Wörter, die man so noch nicht gehört zu haben glaubt.

Immer wieder ganze Sätze, die unglaublich leicht und poetisch wirken: „Ich besuchte das Baptisterium, es war beeindruckend hoch und von einer Zartheit, als wäre der Bau gehäkelt“ (S. 177). Immer wieder reichen einzelne Sätze aus, um Personen treffend zu charakterisieren oder eine Situation zu beschreiben. Die Formulierungen glänzen mit einer  wohltuenden Geschmeidigkeit.

Eine charmante Lässigkeit und gelassener Humor voller Selbstironie ziehen sich durch die Sätze. Das ist aber auch alles ein wenig solipsistisch. Darin erinnert Thommie Bayers „Die kurze Geschichte vom Glück“ an französischsprachige Autoren vom Schlage eines Philippe Djian oder noch mehr an Jean-Philippe Toussaint in dessen frühen Romanen.

Robert Allmann ist ebenfalls reichlich chauvinistisch. Mit den Gepflogenheiten in Sachen politischer Korrektheit hält er auch nicht gerade Schritt. Auch die Helden bei Toussaint schlitterten in Situationen, in denen sie auf sich selbst gestellt waren und die sie mit viel Witz oder Galgenhumor durchstehen mussten. Bei ihm verabschiedeten sich Ehefrauen recht schnell aus der Handlung. Das passiert auch Bayers Lottogewinner, als er ihr eigentlich mitteilen wollte, dass sie nun Millionärin ist.

Richtig schön soll es werden, wenn Allmann seiner Frau die Nachricht überbringt. Genau auf das Menü abgepasst will er ihr die Nachricht vom sorgenlosen Leben beim Abendessen servieren. Aber schon im ersten Akt geht alles schief. Noch bevor die Bombe platzt, gibt es dicke Luft zwischen den beiden und Regina, sein Frau, die er Wespe nennt, verlässt die Wohnung. Im Anschluss beginnt eine Geschichte, die zum Teil eine Roadstory ist und in der Allmann mit verschiedensten Überlegungen konfrontiert wird.

Diese Gedanken kreisen immer wieder um Ecki, einen ehemaligen Kompanion. Beide zusammen hatten eine Agentur ins Leben gerufen. Dabei wurde Allmann von Erik über den Tisch gezogen und Allmann verlor einiges an Geld. Kurioserweise waren es Eckis Zahlen, mit denen auch Robert Allmann Lotto spielte – deswegen weiß er auch sofort, wer der zweite Lottogewinner aus Baden-Württemberg ist.

Nachdem seine Frau das Weite gesucht hat, startet Allmann eine sanfte Konsumtour. Zu den amüsantesten Partien des Romans gehört die Passage, in der er über die Wahl der Automarke für sein neues Pkw nachdenkt. Dass der gebürtige Esslinger keinen Moment daran denkt, einen Mercedes zu wählen und sich für den ästhetischeren BMW entscheidet, regt mindestens zum Schmunzeln an.

Lokalpatriotismus hat er immerhin für Porsche übrig. „Es gibt auch Ästheten in Porsches, aber die prägen nicht das Bild“ (S. 21) – so haben die Luxussportwagen aus Zuffenhausen keine Chance. Dann vielleicht ein SUV? Das sei „neureich für Realschüler“ (S. 21) findet er, der ebenfalls kein Abitur hat. Seine Wahl fällt auf einen Cabrio von BMW. „Der Wagen fuhr sich phantastisch. Es war wie im Kino. Draußen sichtbar die echte Welt oder etwas, das ihr verblüffend ähnelte, und drinnen schwarzer, weicher Komfort“ (S. 48).

Der Bewusstseinsstrom an den aufwühlenden Tagen seit der Nachricht vom Lottogewinn wird strukturiert durch die Schilderung von Autofahrten. Da setzt man sich auch schon mal einfach so ins Auto. „Spazieren fahren. Zur Beruhigung“ (S. 57). Durch Südbaden steuert er seine „Maus“, wie er das Auto nennt. Bis nach Basel, durch das Elsass bis Colmar, zurück in Richtung Deutschland nach Karlsruhe und von da nach Freiburg oder nach Esslingen zu seinem Vater, vorbei an Böblingen oder über die Fildern.

Auch die Strecke Singen – Stuttgart steht auf dem Programm und wer diese schon einmal gefahren ist, weiß: Es gibt dort kein Tempolimit. So fließt die Geschichte dahin, flott und sanft, nur gelegentlich ausgebremst von Fahrern, die ein Auto, das 127 km/h fährt, mit 130 km/h überholen. Eine längere Erzählpartie führt ihn nach Oberitalien. Spätestens hier weiß man: Allmann fühlt sich richtig wohl in dieser Ecke. Hier ist er zuhause.

Zum Motiv des Autofahrens bzw. dem Gedankenfluss Allmann passt eine formale Eigenart des Buches: Nicht nur lässt Thommie Bayer seine Sätze extrem häufig mit einem „und“ beginnen. Dies passiert auch schon mal in zwei Sätzen hintereinander: „Und ich zündete mir ein Zigarette an. Und begriff mit Erstaunen, dass ich mich gleichzeitig in zwei völlig verschiedenen Zuständen befand“ (S. 144-145).

Nein, die Kapitel sind auch – statt konventionell durch Zahlen – durch das kaufmännische Und getrennt. Oder besser gesagt: verbunden. Es empfiehlt sich auf jeden Fall, diese Zeichen einmal mitzulesen. Das treibt den Bewusstseinsstrom ganz eigenartig voran. Im Erzähltext entsteht ein Sog, ein Glückssog quasi, den der Lottogewinner gerade zu erleben scheint.

Das führt aber nicht dazu, dass Allmann ein durchweg sympathischer Zeitgenosse ist. Er vergisst Dinge. Seine Fähigkeit, andere richtig einzuschätzen, ist nicht immer einwandfrei. Vor allem aber: Er ändert in Windeseile seine Meinung oder verschiebt Pläne in die Zukunft: „Ich hatte keine Ruhe für das Ganze, ich würde wieder herkommen, irgendwann auf meiner Reise durch die oberitalienischen Städte“ (S. 177). Als er beschließt Freiburg zu verlassen, stellt er am nächsten Tag doch wieder fest, dass Freiburg eigentlich ganz schön sei. „Wollte ich wirklich hier weg? Ich hatte das Münster erst einmal von innen gesehen, und auf den Turm war ich noch nie gestiegen“ (S. 184).

Impulshandlungen und eine schräge Logik – das ist die bedauerliche Konsequenz dieser selbstironischen Erzählanlage. Die Lässigkeit aus dem ersten Drittel verliert in dem Moment an Sympathie, in dem ein glaubhaftes Ende konstruiert werden soll. Die Geschmeidigkeit der Formulierungen ist im ersten Drittel ein Genuss. Im letzten Drittel gerät sie unter die Räder der ständigen Selbstrelativierungen.

Auch der dramaturgische Höhepunkt im mittleren Drittel – seine Frau brennt mit einem anderen durch und will die Scheidung, ohne vom Lottogewinn erfahren zu haben – überzeugt nicht wirklich. Es war an dieser Stelle bereits zu erwarten, dass sie nicht mehr in der Handlung auftaucht bzw. zu ihm zurückkehrt.

Schließlich sinken Allmanns Gedankengänge gar auf triviales Niveau: „Architektur … und Kunst sind offenbar etwas, das man erst später entdeckt, in der Kindheit geht es nur darum, sich stark zu fühlen“ (S. 198). Ebenso befremdlich steht man dem Erzähler gegenüber, als sein Vater stirbt. Dieser schlug ihn als Kind und entwickelte sich in den 1980ern zum Altnazi zurück. Doch Allmann fragt sich allen Ernstes am Tag der Beerdigung: „Musste ich mich schämen, dass ich nicht um meinen Vater trauerte?“ (S. 198). Bei einem Schläger wohl verzeihlich.

Der permanente Sinneswandel, die Unzuverlässigkeit der Entscheidungen führt natürlich das Ende des Romans ad absurdum. Den geplanten Umzug nach Berlin will man dem Buch als Conclusio dieser ganzen Rallye durch Glück nicht so recht abnehmen. Es klingt nur als das romantisch-kitschige Motiv vom Neuanfang an, das leider blutleer bleibt. Allmann wird sich in Berlin ja nicht ändern. Wovon soll es ein Neuanfang sein? So lieb und teuer, wie ihm das südliche Baden, das Elsass, der Radius rund um Freiburg und auch Italien sind, gibt es keinen Grund, an diesen Neuanfang zu glauben.

Eines fällt allerdings auf. Es scheint ihn ja zu geben, den Mythos Berlin unter Stuttgartern. Zwischen Esslingen und Ludwigsburg scheint es ausgemachte Sache zu sein, mindestens einmal in Berlin arbeiten und leben zu müssen. Manchen zog es dorthin, viele kehrten zurück. Ob Bayer diesen Mythos unter den Schwaben aufs Korn nimmt? Die  Suche nach dem Glück in der Hauptstadt? Dieser Gedanke wäre ein versöhnliches Ende für diesen Roman.