Es gibt nichts Neues unter Sonne? Nun, für den Schatten gilt das nicht. Für die Sonne selbst jedenfalls ist er ein großer Unbekannter. Der große Feuerball hat noch nie einen Schatten zu Gesicht bekommen. Wo die Sonnenstrahlen hinfallen, ist kein Schatten. Wo Schatten ist, da sind keine Sonnenstrahlen. Sonne und Schatten kennen sich nicht.
Doch ums Sehen und Erkennen, ums Denken und Wahrnehmen, um unser Bewusstseinsleben – darum geht es in den Gedichten von Sabine Bergk nur vordergründig. „Wilde Magneten“ erlaubt eine viel einfachere Wahrnehmung, und zwar die des Seins. Sehen, dass die Sonne ist, dass der Schatten ist. Ein einfaches Rezept, mit dem wundervolle Texte wie dieser entstehen:
Schatten und Sonne
sind Liebende.
[…]
Jeder ist in sich Eins;
zusammen sind sie
ein Atem.
Nur noch um die Existenz geht es, ums Sein und nicht um die Erscheinung. In den drei Aussagesätzen taucht dreimal das Verb „sein“ auf und mit diesen wenigen Skizzen liegt auf der Hand, dass beide jeweils Eines sind, doch ohne einander nicht denkbar wären. Wie die Liebe. Sie ist das Thema des wundervollen Gedichtbandes „Wilde Magneten“. Gefunden hat Sabine Bergk hierfür eine berauschend leichte Sprache, die singbare Texte entstehen lässt. Leichtigkeit und meditative Tiefe treffen aufeinander.
Immer wieder beginnen die Gedichte bei einer Wahrnehmung, doch kann es sein, „dass meine Augen nicht nachkommen“, und zwar dem verwirrend-schönen Schein eines „Blütensturms“. Ein zuverlässiges Mittel der Reduktion auf dem Weg von der Wahrnehmung zum Sein sind bekanntlich Verneinungen der Erscheinungswelt. Sie finden sich in diesem Buch zuhauf. Originell: Eines der Gedichte taucht fast identisch zweimal auf. Einmal mit dem Titel „Alles“, einmal in der Negation „Ohne Alles“. Einmal versehen mit lauter willensstarken Formulierungen, die mit „um zu“ beginnen, in der Variation wird ein reduzierendes „ohne zu“ daraus. Die Aufgabe des Willens als Schritt zu tieferer Erkenntnis und wahrem Glück.
Ein anderes Wort für Reduktion ist Loslassen: „lass die Illusion, / lass sie los“, heißt es auf dem Weg „in eine tiefere Welt, / in der nichts falsch ist“. „Gib die Hoffnung auf“, liest man an anderer Stelle mit einiger Überraschung. Soll man sich etwa die Kugel geben, wenn es mal schlecht läuft? Natürlich nicht. Als Gegenbegriff zur Hoffnung wird die Wahrheit etabliert. Es geht darum, sich nicht an etwas zu hängen, was nicht mehr da ist oder gar nicht zu einem gehört. Loslassen lautet die Strategie: „Ich lasse los. / Da ist etwas, das in mir lächelt / und aufsteigt.“ Die beglückende Überformung des Ich durch etwas anderes. In solchen Selbstbefreiungen wird auch erst fester Grund unter den Füßen spürbar: „Du wirst getragen / immerdar“, weiß ein anderes Gedicht zu berichten, das ohne Satzzeichen auskommt. Als Belohnung fürs Loslassen winkt die Fülle, die sich im Ich auftut – ganz lapidar: „Hier ist Dein Hier. / Hier ist in Dir.“
Wenn Wahrnehmen und Denken nicht die Hauptrolle spielen, ist der Topos vom Nichtwissen unvermeidlich: „weiß nicht, was er sprach“ heißt es folgerichtig einmal. Ebenfalls werden, wie schon erwähnt, Sätze sehr häufig mit dem Verb „sein“ konstruiert: „Bin das ich? / Bist das du? / Sind wir uns […] nah“. „Du bist schon da“, stellt das lyrische Ich an einer Stelle fest – und präzisiert später: „Du bist der Stein / […] Du bist die Klarheit“. „Du bist Sonne“ heißt es auf einmal, befreit vom Artikel mit dem ganzen Absolutheitsanspruch, der damit verbunden ist. Sein ist wichtiger als Wissen und Nichtwissen ist der Weg zum Sein, da heben sich auch schon mal die Zeitebenen in paradoxen Formulierungen auf: „Du weißt es noch nicht / und weißt es schon lang“.
Die ganz bewusst verdrehte Logik von Negation, Reduktion und Loslassen zeigt sich auch in der Formulierung „Gipfel sind umgekehrte Täler.“ Überhaupt ist die Natur stark vertreten im Gedichtband „Wilde Magneten“. Vor allem Luft und Wasser zeichnen das Naturbild bei Sabine Bergk. Interessant: Dabei verläuft die Bewegung häufig von oben nach unten. Schwalben, Kohlweißlinge oder Falken sind in den Lüften zuhause – doch nicht nur sie: „Meine Seele ist / wie Schnee. // Sie fliegt“. Die Höhenmetaphorik ist in diesen Liebesgedichten unverkennbar und wird auf verschiedene Weisen durchgespielt. Mystische Logik des Reduzierens und Naturmetaphorik treffen aufeinander: „In die Stille tauchen wir jede Melodie, / tief in den Frieden.“ Die Rolle der Wassermetaphorik ist es, auf die Tiefe und den stillen Grund auf dem Boden des Gewässers zu verweisen.
Die Wiederholung von Bilderwelten und Formulierungen ist ein weiteres überzeugendes Stilprinzip in Sabine Bergks fulminantem Gedichtband. Dadurch entsteht eine meditative, kreisende Bewegung. Ein ewiges Kreisen um dasselbe statt Ablenkung durch Äußerlichkeiten. „So!“ lautet der Titel eines Gedichtes, in dem von platonischer Heimreise und einem Ursprungsort die Rede ist. Es tönt wie ein Auftakt zu mehr. Und spricht nicht auch bereits der Buchtitel von Bewegungen? Vom Hin und Her, das zwischen Magneten besteht? Kurzgeschlossenen wird darin ein metaphysisch-platonisches Bildpanorama von Ewigkeit und beständiger Rückkehr in den Ursprung mit der Erfahrung von Liebe im anderen Menschen. „Wir kreisen […] von Grenzwert zu Grenzwert“. Enden verlieren sich, Anfänge versinken in Anfänge, die noch weiter zurückliegen. Ein ganzes Universum verbindet sich damit. „Dreh Dich mit!“ lautet der letzte Vers des Bandes.
Die Höhenmetaphorik in „Wilde Magneten“ hat viel mit Leichtigkeit zu tun. Denn genauso kommen Sabine Bergks Gedichte daher. Das lyrische Ich singt. Belegen lässt sich das in der Wortwahl und die Tendenz zur Bildung von Neologismen. Herabstürzende Vögel „fingen sich in Liebe / umflügelt auf“. Das Wort „Nachmittagssommersonnenschein“ zeichnet den Flug eines Schmetterlings nach und flattert selbst wie ein Schmetterling durch den Vers. Überraschend schöne Wörter wie „Herzensgärten“ lassen die Texte glühen. Ähnlich gelagert ist „Du bist der Sonnenatem in meinem Gesicht“ – eine schöne Formulierung, die auf die Sonnenmetaphorik des Buches eingeht. Ganz klar: Neologismen gehören zu den Stärken von Sabine Bergk. In diesem Punkt gehört sie zu den Besten in der deutschen Literatur. Synästhetisch wird es, wenn „der Klang leuchtet“. „Letzte Fuge“ heißt eines der traurig-schönsten Gedichte dieses Bandes – ein Beispiel für die unglaublich feinnervige Sprache Sabine Bergks. Es erzählt davon, dass Hoffnungslosigkeit und Kälte entstehen, wenn Musik sich entzieht.
Mit dem Thema vom Gesang deutet sich auch sprachlich die Auflösung dessen an, was in der Schriftform eines gedruckten Buches nicht aufgelöst werden kann. „Flügelschlaghieroglyphen“ sind es, die das Ich bei Betrachtung eines Schmetterlings wahrnimmt und damit die Bildmetaphorik auf die Schriftsprache zurückbiegt. Generell: Mit dem Bezug zum Gesang heben die Worte in „Wilde Magneten“ ab in heitere Lüfte. Singen wird zum Spiel voller Leichtigkeit, das sich als Lösung für eventuelle Liebesklagen andeutet. Damit hat Sabine Bergk die geeignete Form für ihre Liebesgedichte in „Wilde Magneten“ gefunden.
Literarische Texte, die selbst etwas Musikalisches haben, erzeugen häufig den Eindruck von Beliebigkeit. Logisch, tritt doch die Semantik ein Stück weit in den Hintergrund. In der experimentellen Literatur ließ sich dies bei Ferdinand Kriwet beobachten, in der erzählenden Literatur bei Peter Weber. Ähnliches dürfte für dieses Buch gelten. Das Publikum wird eher klein bleiben. Doch wer Liebeslyrik mit einer zauberhaften Sprache, einer zeitgemäßen Lässigkeit und einer meditativen Tiefe – kurz: mit einer stimmigen Poetik sucht, wird sie bei Sabine Bergk finden.